© NÖ Museum Betriebs GmbH, Foto: Klaus Pichler

Eiserner Vorhang

Damals und heute – Gedanken zum Fall des Eisernen Vorhangs

Beeindruckende Kulisse

Der zehn Meter hohe Wachturm des Eisernen Vorhangs und jener Hängegleiter, mit dem Jiři Rada 1988 diese unüberwindbar scheinende Grenze von der damaligen ČSSR aus sprichwörtlich überflog und im Waldviertel landete, sind zwei zentrale Objekte im Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich in St. Pölten. Sie stehen für Grenzen und deren Überwindung. Und beide haben eine interessante Geschichte. Der Wachturm des Eisernen Vorhangs stand nie an der Grenze. Er gehörte zum Ersatzteillager, das sich das kommunistische Regime hielt. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kauften die Landessammlungen Niederösterreich ihn zum Kilopreis und stellten ihn erstmals bei der Niederösterreichischen Landesausstellung 2009 „Österreich. Tschechien. geteilt – getrennt – vereint“ in Horn, Raabs und Telč auf. Jiři Rada gelang mit seinem aus Trabi-Motor und Segelleinen selbstgebauten Hängegleiter ein 100 Kilometer langer Flug in die Freiheit. Ab dann verlieren sich seine Spuren. Vermutlich lebt er heute unter anderem Namen in den USA. Ein Jahr später hätte er die Grenze nach Österreich zu Fuß überqueren können.

Zeitzeugen erzählen

v.l.n.r.: Christian Rapp (Wissenschaftlicher Leiter), Philipp Lesiak, Roland Adrowitzer, Reinhard Linke, Herbert Schleich © NÖ Museum Betriebs GmbHEs gibt also wohl keinen passenderen Ort, um im Rahmen des Zeitzeugen-Forums „Erzählte Geschichte“ 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs über dieses historische Ereignis zu sprechen. So geschehen ist das in einer äußerst spannenden Runde am Dienstag, den 19. November 2019 mit Philipp Lesiak, Historiker und Mitgestalter des Haus der Geschichte (Jahrgang 1979), Roland Adrowitzer, damals ORF-Korrespondent in Prag (Jahrgang 1957) und Herbert Schleich, Fotograf des legendären Fotos von Alois Mock und Jiři Dienstbier an der tschechisch-österreichischen Grenze (Jahrgang 1953).

Wo waren Sie?

Was ist Ihre Erinnerung an den November 1989?“, war die logische Einstiegsfrage von Moderator Reinhard Linke. Philipp Lesiak, damals 10 Jahre alt und in Kärnten lebend, freute sich über die vielen Trabis, die er plötzlich sah. Roland Adrowitzer überrascht mit dem Satz „Ich habe 1989 gelitten, denn ich war am falschen Ort“. Nach Jahren der Berichterstattung aus der damaligen BRD-Hauptstadt Bonn wurde er nämlich kurz vor dem Mauerfall nach London geschickt, um sich mit Margaret Thatcher herumzuschlagen. Sehr bald wurde er aber wieder nach Prag abkommandiert, um seine Kollegin Barbara Coudenhove-Kalergi zu unterstützen. Roland Adrowitzer lässt keinen Zweifel: „Das gehört zu den prägendsten Ereignissen in meinem Journalistenleben.“ Und Herbert Schleich, damals Fotograf des Landespressedienstes unter Siegfried Ludwig, hat einen eindrucksvollen Beleg über seine Tätigkeit damals, das berühmte Foto mit der Drahtschere: „Auf alle Fälle: Es ist das Foto meines Lebens. Das ist mein 18-Ender, wie ein Jäger sagen würde.“
Der Eiserne Vorhang © Herbert Schleich

Historischer Moment?

Aus der Retrospektive ist schnell klar: Es war ein historisches Ereignis. Aber wie war das damals? Waren einem die Dimensionen der Geschehnisse bewusst? Definitiv ja, meint Roland Adrowitzer, aber „Es hat niemand damit gerechnet, dass es so schnell geht“. Selbst der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl brach einen Besuch in Polen ab – eine äußerst heikle Geste – weil in Berlin die Mauer fiel. Der Historiker Philipp Lesiak betont, dass ein Blick in die mittlerweile geöffneten Archive allerdings belegt, dass der politischen Elite im Osten durchaus bewusst war, dass das System vor der Erosion stand. Die Dokumente würden zeigen, wie weit Gorbatschow & Co vorausgedacht hatten. Und dennoch war die Bevölkerung im Allgemeinen überrascht und so gelang es einigen Wenigen, das Heft in die Hand zu nehmen und von der so genannten „Wende“ zu profitieren. Herbert Schleich beschreibt die besondere Rolle seines Chefs Siegfried Ludwig, der in Znaim aufgewachsen war, so: „Ludwig hat sich dafür eingesetzt, dass die Grenzen durchlässig werden und wurde dafür von seinen eigenen Leuten ausgebuht“.

Leben hinter dem Eisernen Vorhang

Die DRR war ein grauslicher Unrechtsstaat mit Folter und Geheimdiensten, betont Roland Adrowoitzer. Und je mehr DDR-Bürger flüchteten, desto mehr mussten sich die Gebliebenen erklären, warum sie blieben. Die Familie von Herbert Schleich flüchtete nach den Beneš-Dekreten nach Österreich und ließ sich schließlich in Deinzendorf (Bezirk Hollabrunn, NÖ) nieder, wo der Fotograf bis heute wohnt. 1972 fuhr er mit seiner Mutter das erste Mal in die ČSSR und fand das stark verfallene Elternhaus vor. Siegfried Ludwig habe er einmal mit seinem Bruder und seiner Schwester zum Heimathaus begleitet. Die neuen Besitzer verweigerten ihm jeden Zutritt. Dafür habe Ludwig gleich für eine Glocke für die Kirche im Heimatdorf gesammelt. „Mit dem Schicksal muss man leben, auch wenn es wehtut“, erklärt Herbert Schleich, der sich bis heute für den Fall des Eisernen Vorhangs im Kopf der Menschen einsetzt. Philipp Lesiak schildert eindrucksvoll, wie sich das kommunistische Regime selbst demontierte, weil bei aller Überwachung Fehler im eigenen System nicht gemeldet werden durften. In der Propaganda war der Zaun nur dazu da, um den guten Osten vor dem bösen Westen zu schützen. De facto war er ein Gefängnis.

Alois Mock und Jiři Dienstbier in Laa an der Thaya © Herbert Schleich
Der einschneidende Moment

40 Fotografen waren da und 20 Kamerateams und der nicht gerade groß gewachsene Herbert Schleich hatte einfach den richtigen Platz im richtigen Moment, um das legendäre Foto von Alois Mock und seinem tschechoslowakischen Kollegen Jiři Dienstbier zu machen. Ganz ohne Blutzoll ging es aber nicht, rempelte ihn doch ein Kollege und er verletzte sich mit der eigenen Kamera die Lippe. Als Siegfried Ludwig die Blutspuren auf seinem Anzug sah, witzelte er: „Herbert, wie schaust denn aus? Host g‘raft?“ und er bat Schleich, ihm die Rechnung von der Putzerei zu schicken. Eindrucksvoll war auch Jiři Dienstbiers Rede auf dem Hauptplatz von Laa an der Thaya: „Diesen Zaun zu durchschneiden ist das größte Friedensprojekt“, soll der damalige Außenminister gesagt haben, der selbst drei Jahre im Gefängnis gesessen war.

Anekdoten aus der Berichterstattung in Prag steuerte Roland Adrowitzer bei. Als sich gerade 200.000 Menschen auf dem Wenzelsplatz versammelt hatten und das Politbüro zurückgetreten war, fragte Adrowitzer seine Kollegin Coudenhove-Kalergi: „Barbara, wo ist das Kamerateam?!?“ „Die habe ich essen geschickt. Die haben mir so leidgetan, die waren so hungrig.“ Durch die Menschenmassen als arbeitender Reporter durchzukommen, war auch nicht immer leicht. So reagierte eine Frau einmal auf die Bitte, sie doch durchzulassen, weil sie vom österreichischen Fernsehen sind, mit interessierten Blicken: „Ja, ja, ich kenne die alle, ich schaue ja österreichisches Fernsehen.“ Philipp Lesiak erklärt, dass Michail Gorbatschow mit seinen Handlungen alle verblüffte. Eine Pop-Ikone sei er deswegen aber nur im Westen gewesen, im Osten stieß sein Handeln auf viel Widerspruch.


Der Hauptplatz von Laa an der Thaya © Herbert SchleichWas bleibt vom Fall der Mauer?

Roland Adrowitzer war nach dem Fall der Mauer viel in der ehemaligen DDR unterwegs und ihm ist absolut klar: Es ist vieles anders gekommen, als sich das die Leute erhofft haben. Die Leute waren enttäuscht vom Raubtier-Kapitalismus, auch wenn niemand den Kommunismus zurück wollte. Üblicher Weise bleiben die Sieger einer Revolution. In diesem Fall sind sie aber in den Westen gegangen und haben illiberalen Demokraten wie Viktor Orban und Jarosław Kaczyński das Feld überlassen. Was aus dem Westen kam, waren die „Besserwessis“, die alle belehren wollten, wie es geht. Es blieb eine Orientierungslosigkeit zurück: Sie wussten gar nicht, wie sie sich anreden sollten, denn Genosse ging nicht mehr. Früher hatten alle nichts und heute haben sich einige bereichert. Der Kapitalismus hatte seine moralische Instanz verloren. Einig ist sich das Podium darüber, dass der Eiserner Vorhang in den Köpfen der Menschen noch viel länger stand, vielleicht sogar manchmal noch steht. Roland Adrowitzer bringt es auf den Punkt: „Es ist eine völlig unangebrachte kulturelle Überheblichkeit. In Bad Radkersburg spricht niemand slowenisch.“

Neugierig auf die Diskussion geworden? Wollen Sie wissen, was Gorbatschow angeblich zu Kreisky gesagt hat? Dann klicken Sie sich auf die Facebook-Seite des Museums Niederösterreich und rufen Sie die gesamte Liveübertragung des Zeitzeugen-Forums ab oder lesen Sie die wichtigsten Zitate mit dem #ErzaehlteGeschichte auf Twitter (@MuseumNOE) nach.

Text: Mag. Florian Müller

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